"Invitational Rhetoric will nicht die Zumutung sein, die eigene Meinung ändern zu müssen."
Wie kann Wissenschaftskommunikation Polarisierung vorbeugen und entschärfen? Darum geht es in einem interaktiven Workshop beim Forum Wissenschaftskommunikation 2024. Dr. Lily Tonger-Erk erklärt im Interview, wann Themen triggern und stellt das Konzept der „Invitational Rhetoric“ vor. Lily Tonger-Erk arbeitet im Projekt „Über Geschlecht und Gender streiten. Konflikt und Konsens als Herausforderung der Wissenschaftskommunikation (KoKoKom)“ an der Universität Tübingen.
von Simon Esser
Frau Tonger-Erk, Sie sind Rhetorikerin, Germanistin und Kulturwissenschaftlerin. Das sind viele Anknüpfungspunkte, um zum Thema Triggern zu kommen. Was hat Sie interessiert?
In unserem interdisziplinären Forschungsprojekt KoKoKom untersuchen wir am Beispiel der polarisierten Debatte um Geschlecht und Gender, wie in der Wissenschaftskommunikation ein gemeinsamer Verstehenshorizont gefördert und Polarisierung vermindert werden kann. Als Germanistin interessiert mich besonders die heftige Diskussion über geschlechtergerechte Sprache. Das ist ein Thema, das für uns alle wichtig ist, weil wir alle Sprache benutzen und uns dazu irgendwie positionieren müssen. Und obwohl die meisten Menschen in Deutschland grundsätzlich für die Gleichstellung von Geschlechtern und für Toleranz gegenüber sexueller Diversität sind, lehnen Studien zufolge bis zu zwei Drittel der Menschen das Gendern ab. Im Kontext des Genderns wird allerdings ganz häufig nicht über die beste Art der sprachlichen Berücksichtigung von unterschiedlichen Geschlechtern gesprochen, sondern die Debatte wird extrem emotional oder sogar aggressiv geführt: Auf Social Media oder auf Familienfeiern reicht oft schon ein Wort wie das Gendersternchen oder Pronomen, um das Fass zum Explodieren zu bringen. Und so was nennt man einen Triggerpunkt. Das ist ein Punkt, an dem die Debatte ins Emotionale umschlägt und ein Punkt, an dem sich alle Beteiligten sofort zu einer Parteinahme gedrängt sehen. Bin ich dafür oder bin ich dagegen? Und genau das bedeutet ja Polarisierung, dass man ein kompliziertes Thema auf einen ganz simplen Gegensatz herunterbricht: pro oder contra. Und dass man dann diesem Thema Gruppen zuordnet: Die Dafür-Gruppe oder die Dagegen-Gruppe, eine In-Group und eine Out-Group.
Setzen diese Parteien bewusst Triggerpunkte oder tauchen Triggerpunkte einfach auf?
Rhetorisch kann Polarisierung sehr gewinnbringend eingesetzt werden, um die eigene Gruppe in ihrer Identität zu stärken. Oft wird die Out-Group auf diese Weise abgewertet. Wenn man sich gemeinsam über die andere Gruppe lustig macht, kann das zur gemeinsamen Identität der In-Group beitragen.
Kann Triggern nicht auch einen Dialog initiieren: Man provoziert eine Konfrontation und setzt sich dann gezielt mit dem (politischen) Gegner an einen Tisch und tauscht sich darüber aus, was einen bewegt und wo man die andere Seite nicht versteht?
Nein, ich glaube, dass Polarisierung einen Dialog verhindert. Weil der Austausch über die Vielzahl der Perspektiven, Lebensweisen und Meinungen, die wir haben, endet, wenn wir uns sofort einer bestimmten Gruppe und einer fest geformten Identität zuordnen. Deshalb ist es wichtig, in der Wissenschaftskommunikation zu polarisierten Themen solche Triggerpunkte erkennen zu können. Zu wissen, was warum triggert, und sie im Idealfall zu vermeiden.
Was triggert warum?
Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser beschreiben in ihrem Buch „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ (2023), dass Themen besonders triggern, wenn bestimmte Werte oder Annahmen verletzt werden. Das sind zum Beispiel sogenannte Normalitätsverstöße. Normalitätsverstöße triggern, weil wir uns in dem, was wir als legitime Normalität sehen, irritiert fühlen. Wir sehen das zum Beispiel beim Einsatz von Slogans wie “Zurück zur Normalität”. Ein anderer Aspekt sind Entgrenzungsbefürchtungen. Es sind Befürchtungen, die triggern, weil man Angst hat, dass es zu einer Inflation der Ansprüche kommt. Beim Gendern etwa wird häufig argumentiert: “Was soll denn jetzt noch alles kommen?” Mit Begriffen wie “Salzstreuer*in” oder “Bürger*innensteig” soll das Thema dann ad absurdum geführt werden. Weiterhin triggern Verhaltenszumutungen. Der Sprachwandel fordert Verhaltensänderungen von uns ein. Und das kann zu Reaktanz führen…
Sie stellen mit der Invitational Rhetoric ein Konzept zum Vermeiden von Triggern vor. Wie verhindert die Invitational Rhetoric Zumutungen?
Invitational Rhetoric will nicht die Zumutung sein, die eigene Meinung ändern zu müssen. Wir beschäftigen uns mit Wissenschaftskommunikation aus einer rhetorischen Perspektive. Seit der Begründung der Rhetorik in der Antike wird Rhetorik eher als Überzeugung oder auch Überredung verstanden. Das heißt, Rhetorik als strategische Kommunikation in einer agonalen Situation, also einer Situation, die durch den Wettbewerb der Meinungen geprägt ist. Ziel ist es, die eigene Position durchzusetzen und dafür im Zweifelsfall eben auch die des Gegenübers zu verändern. Die Invitational Rhetoric hingegen geht davon aus, dass es nicht Aufgabe der Rhetorik sein muss, die Meinung des Gegenübers zu verändern. Denn damit drückt man letztlich aus, dass die Meinung, das Wissen oder das Glaubenssystem des Gegenübers unzureichend ist. Dies ist aus Sicht der Invitational Rhetoric ein Dominanzverhalten. Stattdessen handelt es sich um eine Rhetorik, die versucht, Zumutungen zurückzunehmen und Wertschätzung in den Mittelpunkt zu stellen.
Zu was lädt man ein?
Sonja Foss und Cindy Griffin, die Gründerinnen der Invitational Rhetoric, nennen es „offering perspectives“. Im Vordergrund steht die Einladung, die eigene Perspektive zu reflektieren, und die Bereitschaft, sich über andere Perspektiven zu verständigen. Man fragt, wo ein common ground ist. Wenn wir uns beim Thema Gendern zum Beispiel darüber einig sind, dass wir für Gleichberechtigung sind und auch für eine große Toleranz in der Gesellschaft. Ausgehend von diesem common ground initiiert man eine Diskussion.
Der Begriff “Einladung” ist spannend: Jemand bittet jemanden über eine Schwelle - man lädt ein in sein Haus oder in seine Gedankenwelt. Man macht sich verletzlich, gibt etwas preis. Gleichzeitig muss der andere die Einladung annehmen oder ausschlagen, was schon begrifflich etwas Gewalttätiges hat…
Ein gutes Vorgehen ist es, eine Einladung zu einer Verständigung in einem Dialog auszusprechen: Indem man beispielsweise in der Wissenschaftskommunikation eher erzählt, wie man zu einer bestimmten Position gekommen ist, als dass man eine fertige Position als gesetzt darstellt. Für die Wissenschaftskommunikation bedeutet das, nicht top down auf vermeintlich Unwissende einzureden, sondern dem Gegenüber einen sicheren Raum zu bieten, um auch seine eigenen Überlegungen und Perspektiven einzubringen. Und ihm die Freiheit einzuräumen, über die eigene Position zu entscheiden. Man muss aber dem Gespräch auch bewusst Grenzen setzen. Sich damit auseinandersetzen, bis zu welchem Grad man bereit ist, Meinungen des Gegenübers zu akzeptieren. Wenn ich zum Beispiel mit Rassismus oder Sexismus konfrontiert bin. Es lohnt sich für Wissenschaftler*innen gerade angesichts polarisierter Debatten über diese Grenzen zu reflektieren.
Das ist eine individuelle Entscheidung. Wie sieht es auf institutioneller Ebene aus: Ist es ein Job der Wisskomm, Debattenkultur zu monitoren und zu verändern?
Ja, unbedingt. Weil wir sehen, dass Themen politisch instrumentalisiert werden. Auf einfache, einander entgegengesetzte Lösungen heruntergebrochen werden. Gendern ja oder nein, anstatt gemeinsam nach bestmöglichen Lösungen zu suchen. Da finde ich die wissenschaftliche Stimme ganz wichtig, die immer wieder differenziert, die immer wieder das Gespräch sucht und das Thema nicht politischen Fraktionen überlässt. Deshalb finde ich es auch so wichtig, dass man sich nicht aus polarisierten Debatten zurückzieht. Ich höre immer wieder von Kolleg*innen gerade aus den Gender Studies, dass sie sich eigentlich gar nicht mehr zu Wort melden wollen, weil es so anstrengend ist, sich den Anfeindungen zu stellen. Da sehe ich auch die Universitäten in der Pflicht, die Forscher*innen in der Wissenschaftskommunikation bei solchen Themen zu unterstützen, damit die Stimmen der Wissenschaft in diesen Diskussionen immer hörbar bleiben.
Forum Wissenschaftskommunikation: Mittwoch, 12. Dezember, 9:00-10:30 Uhr,
Interaktiver Workshop: Triggerpunkte: Strategien der De-Polarisierung in der Wissenschaftskommunikation
Moderation: PD Dr. Lily Tonger-Erk, Prof. Dr. Olaf Kramer und Isolde Sellin, Universität Tübingen; Prof. Dr. Annette Leßmöllmann, Karlsruher Institut für Technologie
Anmeldungen zum Forum Wissenschaftskommunikation sind noch bis zum 18. November über das Anmeldeformular möglich.