„Wir haben Mindset-Twins miteinander diskutieren lassen“

Digitale Projektion von Joseph von Fraunhofer, der mit einer Person vor dem Display interagiert
© Aristidis Schnelzer/Fraunhofer IAO
30. Oktober 2025

Am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO entwickeln Forschende sogenannte Mindset-Twins – digitale Zwillinge, die Denkweisen und Emotionen simulieren. Im Interview erklären Janina Bierkandt und Stephan Wilhelm, welches Potenzial diese KI-Agenten für die Wissenschaftskommunikation haben – und warum ein Avatar oft mehr erreicht als ein Chatbot.

von Simon Esser

Frau Bierkandt, Herr Wilhelm, Sie stellen beim Forum Wissenschaftskommunikation 2025 sogenannte Mindset Twins vor – KI-Agenten, die im Auftrag der Wissenschaftskommunikation agieren. Warum interessiert Sie der Gedanke, Rollen und Perspektiven mithilfe künstlicher Intelligenz zu simulieren?

Janina Bierkandt:
Wir erforschen, wie sich Innovationsmanagement neu gestalten lässt – etwa, indem wir KI-gestützte Personas und, wie wir sie nennen, Mindset-Twins einbeziehen. So können Marktforschungsprozesse deutlich effizienter werden. Unsere Vision ist, künftig nicht immer reale Menschen befragen zu müssen, sondern digitale Abbilder, die stellvertretend Auskunft geben können. Das spart Zeit und Ressourcen und liefert trotzdem wertvolle Erkenntnisse. Diese Mindset-Twins sind wie Spiegelbilder von Menschen: datenbasiert, befragbar, beobachtbar.

Stephan Wilhelm:
Digitale Zwillinge sind im Ingenieurwesen längst Standard. Schon in den 1990er-Jahren wurde ein Mercedes-Sportwagen vollständig digital modelliert und getestet. Später haben wir dasselbe mit Gebäuden gemacht – inklusive Belüftung, Beleuchtung oder Klimatisierung. So konnte man Räume vorab testen und Fehler vermeiden.

Und jetzt stellt sich natürlich am Ende die Frage: Kann man auch Menschen digital abbilden? Ja, geht. Und zwar visuell und auditiv so realitätsnah, dass sie wirken wie echte Personen – mit Mimik, Körpersprache, Sprachverständnis. Nonverbale Kommunikation ist entscheidend: Ein Stirnrunzeln verrät sofort, dass etwas nicht verstanden wurde. Genau diese Feinheiten wollen wir digital abbilden.

Janina Bierkandt:

Wir haben zum Beispiel unseren Avatar Joseph, der Wissen vermittelt. Der digitale Zwilling unseres Namenspatrons soll in Zukunft anhand der Daten über verschiedene Zielgruppen erkennen, was die Menschen, mit denen er im Gespräch ist, brauchen und wie Informationen aufbereitet sein müssen.

Sie greifen für Joseph auf immersive Technik zurück, die man eher aus dem Gaming kennt. Was ist der Gedanke dahinter?

Stephan Wilhelm:
Wenn wir so eine Entwicklung vorantreiben, wollen wir nicht bei null anfangen, sondern uns auf das stützen, was technisch schon ausgereift ist. Da bieten Gaming-Engines eine hervorragende Basis. Sie bringen vieles mit, was wir für realistische Simulationen brauchen: Wenn ich einen Raum simuliere, brauche ich Lichteffekte. Wie fällt das Licht durchs Fenster? Wie wirkt der Schatten?

Genauso beim Echtzeitrendering. Wir arbeiten nicht mit starren Filmsequenzen, die einfach abgespielt werden, sondern mit einer echten Interaktion. Unser Joseph sieht, wo ich stehe. Er hält Blickkontakt, folgt mir mit den Augen, wenn ich mich bewege. Und wenn in einer Gruppe fünf Personen sind, erkennt er: „Links vorne spricht gerade jemand“ – und richtet seine Aufmerksamkeit darauf.

Dazu kommen die ganzen physikalischen Effekte. Selbst kleinste Details wie Staubpartikel in der Luft, ein Luftzug, der die Haare bewegt, oder die Art, wie Kleidung fällt – all das kann eine Gaming-Engine in Echtzeit darstellen.

Ihre Mindset-Twins sollen auch menschliches Verhalten simulieren – das ist ja deutlich weniger berechenbar. Kann da gerade das „Halluzinieren“ von KI produktiv sein?

Janina Bierkandt:
Man könnte es so sehen, aber bei uns liegt der Fokus woanders. Die Mindset-Twins basieren auf Daten, die wir über reale Menschen gesammelt haben. Sie verhalten sich so, wie diese Menschen denken, fühlen oder reagieren würden. Das unterscheidet sie von generativen Chatbots, die auf allgemeine Informationen zurückgreifen und teilweise Inhalte erfinden. Für unsere Anwendungsfälle ist es wichtig, dass wir die Twins gut mit Informationen füttern – und genau das testen wir gerade.

Dr.-Ing. Stephan Wilhelm, Janina Bierkandt und Juliane Segedi vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO

Welche Kriterien sind Ihnen wichtig, wenn man die gesammelten Erkenntnisse für die Wissenschaftskommunikation nutzt?

Stephan Wilhelm:
Die beiden wichtigsten sind Verständlichkeit und die emotionale Ebene. Wir müssen uns fragen: Haben wir die Menschen wirklich erreicht oder haben wir unbewusst Ablehnung ausgelöst? Ein Beispiel aus der Vergangenheit: Grüne Gentechnik. In Europa ist das ein hochsensibles, negativ belegtes Thema, in den USA dagegen wurde es positiv kommuniziert und akzeptiert.

Dasselbe gilt für Begriffe wie „Großraumbüro“. Allein das Schlagwort löst sofort negative Reaktionen aus. Die Herausforderung besteht darin, Inhalte so darzustellen, dass Menschen nicht vorschnell abblocken, sondern offen zuhören. Und genau hier können Mindset-Twins helfen, weil sie zeigen, wie bestimmte Zielgruppen auf Begriffe oder Formulierungen reagieren.

Was bedeutet das für die Skalierbarkeit?

Stephan Wilhelm:
Das Potenzial ist enorm. Unser Joseph kann Inhalte individuell zuschneiden – er erklärt physikalische Gesetze so, dass sie für Kinder verständlich sind, oder zieht Beispiele aus dem Alltag, die jeder nachvollziehen kann. Der klassische Wissenschaftsjournalist muss dafür jahrelange Erfahrung sammeln, oft auch Rückschläge einstecken, wenn eine Botschaft nicht ankommt. Mit KI lässt sich dieser Lernprozess individualisiert beschleunigen.

Die älteren Zeitgenossen, die über viel Erfahrung verfügen und sie als wertvolles Gut hochhalten, sind möglicherweise traurig darüber, dass das jetzt abgekürzt werden kann. Aber bei der Menge an Themen, die wir täglich kommunizieren müssen, ist es schlicht nicht möglich, sich auf ein rein menschliches Erfahrungswissen zu verlassen. Wir haben gar nicht genug Fachleute, um alles individuell zu bearbeiten. KI ermöglicht es, große Mengen an Inhalten zielgruppengerecht zu kommunizieren.

Wenn ich zum Beispiel eine Wärmepumpe erklären will, dann beginne ich nicht mit dem A bis Z der Thermodynamik, während die Hälfte des Publikums abschaltet. Stattdessen warte ich auf Fragen, gehe auf individuelle Anwendungsfälle ein. Genau das kann ein Avatar leisten – er kann dialogorientiert kommunizieren und am Ende einen deutlichen Mehrwert erzeugen. Wir nennen das dann einen Added Value Avatar (AVA).

Da Sie vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation kommen, bin ich neugierig: Wie integrieren Sie die Mindset-Twins selbst in Ihren Arbeitsalltag?

Janina Bierkandt:
Man kann die Mindset-Twins sehr gut in der Marktforschung einsetzen. Heute dauert es oft lange, bis man Ergebnisse aus Befragungen oder Tests hat. Mit Mindset-Twins geht das schneller und kostengünstiger. Man kann neue Ideen früh prüfen, Trends aufspüren oder Produkte gezielter entwickeln.

Ein Beispiel: Mit einem großen Retail-Unternehmen haben wir untersucht, wie Zielgruppen auf neue Getränkeideen reagieren. Dazu haben wir verschiedene Mindset-Twins miteinander diskutieren lassen. Daraus haben wir Hinweise bekommen, was besonders gut ankommt, was abgelehnt wird oder welche Bedenken es gibt. Wir beginnen nun, solche Ansätze auch für unsere eigenen Innovationsprozesse zu nutzen. Aber wir stehen noch am Anfang – das ist laufende Forschung, kein fertiges Produkt.

Stephan Wilhelm:
Genau, das sind alles echte Experimente im Alltag. Bei Fraunhofer testen wir solche Anwendungen pilothaft, bevor wir sie weitergeben. Wir haben Joseph mit mehreren Gigabyte Projektdaten gefüttert und ihn in ein Abschlussmeeting eingeladen. Obwohl das Team drei Jahre lang am Projekt gearbeitet hatte, konnte Joseph viele Fragen schneller beantworten – teils präziser, teils mit Details, die die Teammitglieder selbst übersehen hatten.

Das zeigt das Potenzial im Wissensmanagement. Wenn Expert*innen ausscheiden, geht oft viel Wissen verloren. Stellen Sie sich vor, ein Gründer mit 500 Patenten. Die kennt der mitunter selbst nicht mehr alle genau. Mit einem Avatar, der ihr Fachwissen repräsentiert, bleibt das Wissen erhalten und kann individuell abgerufen werden. Manche Pensionäre haben gesagt: Am liebsten hätten sie so einen Avatar von sich selbst, um ihr Wissen mit Nachfolgern zu teilen und virtuell weiter dabei zu sein.

Warum ist es wichtig, mit einem Avatar zu interagieren, statt einfach einen Chatbot oder Sprachassistenten zu nutzen?

Stephan Wilhelm:
Ich könnte natürlich auch tippen, also warum tippe ich da nicht? Weil es mühsam ist. Warum spreche ich nicht mit Siri oder Alexa? Weil es keinen Spaß macht. Ich setz mich doch nicht vor den Lautsprecher und schwatz mit so einer Kiste. Man spricht bei dem Phänomen auch von Uncanny Valley.

Der Mensch will seinem Gegenüber in die Augen sehen, will Mimik und Körpersprache wahrnehmen. Genau da setzen Avatare an. Früher gab es „Karl Klammer“, die animierte Büroklammer in Microsoft Office. Sehr rudimentär, nur ein paar Striche, aber immerhin mit Emotionen ausgestattet. Das war die erste Phase solcher Avatare. Heute können wir das auf ein völlig neues Niveau heben. Wir haben dazu kürzlich ein Positionspapier „Vorschlag für LAIA²-Stufenmodell zur Meta-Klassifikation virtueller KI-Avatare“ veröffentlicht, welches die unterschiedlichen Entwicklungsstufen beschreibt.

Um die passende Repräsentation zu finden, also von der sprechenden Büroklammer bis zum photorealistischen Menschabbild, müssen wir verschiedene Fälle durchdeklinieren und beurteilen: Was hilft wo am besten? Wenn ich eine Krebsdiagnose erklärt bekomme, vertraue ich als älterer Mensch bisher einem Arzt mehr als einem Avatar. Ich denke, langfristig wird es nicht genug Ärztinnen und Ärzte geben, um jede Diagnose persönlich zu vermitteln. Dann stellt sich die Frage: Soll das ein Smiley übernehmen – oder ein Avatar, der aussieht wie der Arzt meines Vertrauens? Genau an diesem Punkt stehen wir heute. Grafik, KI-Sprachausgabe und Sprachinteraktion entwickeln sich gerade so rasant, dass diese Kombination erstmals realistisch wird.

Für wen eignet sich Ihr Workshop beim Forum?

Janina Bierkandt:
Für alle, die Informationen an Menschen vermitteln wollen und die Lust haben, mit uns zu überlegen, wie KI in Zukunft dabei unterstützen kann. Wir bringen bewusst keine fertige Lösung mit, sondern Ansätze, die wir vorstellen wollen. Im Workshop möchten wir gemeinsam mit den Teilnehmenden diskutieren: Welche Anwendungsfälle gibt es? Welche Ideen haben Sie schon entwickelt oder ausprobiert? Wie realistisch muss ein Avatar sein? Welche Interaktionsformen sind für welche Situationen sinnvoll?

Das heißt: Am Ende bekommt niemand ein fertiges Produkt mit nach Hause, sondern Inspiration. Und man kann aktiv zu einem aktuellen Forschungsthema beitragen und Denkanstöße mitnehmen.

Stephan Wilhelm:
Inspiration ist der größte Mehrwert. Wenn die Leute sehen, was technisch machbar ist, kommen sofort eigene Ideen. Ich habe das bei Ingenieuren erlebt: Wenn sie gewusst hätten, dass eine bestimmte Technik schon funktioniert, hätten sie sofort Anwendungen dafür gesehen. Bei jeder Veranstaltung gibt es Überraschungen. Jemand betrachtet das Thema aus einer völlig anderen Perspektive oder bringt einen Aspekt ein, an den wir noch nicht gedacht haben. Genau dieses Feedback, diese neuen Blickwinkel machen den Prozess für uns so wertvoll.

Forum Wissenschaftskommunikation, Donnerstag, 4. Dezember 2025, 14.15–15.45 Uhr

Workshop: Mindset-Twins: KI-Agenten im Auftrag der Wissenschaftskommunikation
Referent*innen:
Dr.-Ing. Stephan Wilhelm, Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO
Janina Bierkandt, Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO
Juliane Segedi, Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO

Anmeldungen zum Forum Wissenschaftskommunikation sind noch bis zum 11. November 2025 möglich. Das Forum Wissenschaftskommunikation ist die größte Fachtagung für Wissenschaftskommunikation im deutschsprachigen Raum. Unter dem Schwerpunkt „Algorithmen, Plattformen und KI: Wissenschaftskommunikation im digitalen Wandel“ erwartet Teilnehmer*innen am 3. und 4. Dezember im Kultur- und Kongresszentrum Liederhalle Stuttgart ein vielseitiges Programm mit Paneldiskussionen, Kurzvorträgen aus Forschung und Praxis und Workshops.

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