„Ich bin ein Misfit“
Wie können wir eine wünschenswerte Zukunft gestalten? Ein Gespräch mit der Transformationsforscherin Maja Göpel über die Rolle der Wissenschaft in Zeiten des Wandels, Brücken bauen durch Kommunikation und Ghostwriting-Vorwürfe.
von Sina Metz
Beim Forum Wissenschaftskommunikation 2022 gibt Maja Göpel die Keynote „Wissen schaffen in turbulenten Zeiten: Wo stehen wir und was steht an?“. Sie ist promovierte Politökonomin, Expertin für Nachhaltigkeitspolitik und Transformationsforschung und hat eine Honorarprofessur an der Leuphana Universität Lüneburg inne. Sie arbeitet als Autorin, Rednerin und Beraterin zu Themen an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Maja Göpel ist Mitbegründerin der Scientists4Future. 2020 erschien ihr Bestseller „Unsere Welt neu denken“, 2022 folgte mit „Wir können auch anders“ ein weiterer. Im Interview mit Sina Metz für Wissenschaftskommunikation.de spricht sie darüber, wie man Tranformation aktiv gestaltet, wie Partizipation glückt und warum sie Wissenschaftskommunikation als Teamwork versteht.
Frau Göpel, Ihr Buch „Wir können auch anders“ liest sich wie eine Einführung in komplexe Systeme. Warum ist es wichtig, die Komplexität unserer Welt zu verstehen, um sie verändern zu können?
Aus Sicht der Nachhaltigkeitstransformation stehen drei Blockaden dem systemischen Denken im Weg. Wir sind nicht gut darin, vernetzt zu denken. Häufig wollen wir Probleme lösen, indem wir Symptome bekämpfen. Also versuchen wir eine tolle, neue Technologie oder einen Ersatz für ein knappes Teil zu finden; beispielsweise, wenn wir bei der Verkehrswende nur auf den Elektroantrieb setzen. Wir verlieren aus den Augen, wie dieses eine Produkt oder diese eine Technologie mit anderen Dingen wie sozialen Praktiken oder Geschäftsmodellen zusammenhängt und wundern uns dann über Rebound-Effekte oder Problemverschiebungen. Dazu kommt, dass wir oft erst konsequent handeln, wenn wir die Auswirkungen bereits spüren. Dabei haben wir in der Coronapandemie gesehen, wie wichtig es ist, frühzeitig zu agieren und Trends abzumildern oder umzukehren. Und dann gibt es noch tief verankerte strukturelle Blockaden wie etablierte Denkmuster, Routinen, soziale Praktiken oder Institutionen, die es Einzelnen schwer machen, auszubrechen, um Dinge neu anzugehen. Deshalb ist es wichtig, immer wieder nach der Bestimmung zu fragen: Was ist das Ziel, das wir erreichen wollen? Und entsprechen unsere Strukturen heute dieser Zielerreichung, sind sie fit for purpose?
Warum ist es langfristig sinnvoller, Transformation zu gestalten als lediglich auf Schocks zu reagieren?
Weil es wünschenswert ist, Übergangsprozesse möglichst verlust- und konfliktarm zu gestalten. Das schaffen wir besser, wenn wir früh erkennen, dass Dinge sich verändern werden. Nur so können wir rechtzeitig die Betroffenen involvieren. Partizipationsformate brauchen Zeit. Es geht darum, Menschen tatsächlich aufzuklären und sie an einer Diskussion über eine just transition teilhaben zu lassen, darum unterschiedliche Interessen zusammenzubringen und möglichst breit getragene Lösungen zu finden. Wartet man auf den Schock, reagiert man nur. Dann können wir weder die Menschen noch die Alternativen ausreichend vorbereiten.
Es wirkt dennoch, als gäbe es Beharrungskräfte, eher am business-as-usual festzuhalten als eine wünschenswerte Zukunft zu erdenken. In der Coronapandemie wurden beispielsweise Rufe laut, zur Normalität zurückzukehren. Können wir doch nicht anders?
In der Forschung sprechen wir von Pfadabhängigkeiten. Wir haben Routinen, Denkmuster und Strukturen entwickelt, die uns helfen, Komplexität zu reduzieren. Wir stehen nicht jeden Morgen auf und erschließen uns die Welt neu. Unsere Gewohnheiten geben uns Halt. Dabei dürfen wir Normalität und Stabilität nicht verwechseln. Ich habe das Gefühl, dass wir eigentlich nach Stabilität suchen. Vielen Menschen ist klar, dass es diese vermeintliche Normalität, das Weiter-so gar nicht mehr geben kann. Der Ruf nach Normalität drückt die Verunsicherung darüber aus.
Deshalb sind transparente und Vertrauen bietende Prozesse für die Übergangsphase, klare Ziele für eine neue Normalität und die Ansage, dass niemand zurückgelassen werden wird, so wichtig. Dabei geht es nicht nur um Innovation, sondern auch um Exnovation: Wie schaffen wir es, dass wir die Besitzstandswahrung früher loslassen und das Neue schneller wachsen kann?
Können Sie das an einem Beispiel klarer machen?
Im Mobilitätsbereich sehen wir sehr deutlich, dass viele Alternativen nicht so schnell auf den Markt kommen, weil grundsätzliche Fragen der Mobilität nicht gestellt werden. Die Idee einer weiter wachsenden Autoflotte bleibt bestehen. Das couragierte Loslassen ist aber ein wichtiger Beitrag, um Ressourcen und Energie auf etwas Neues auszurichten.
Da frage ich mich, warum wir so eine starke Verliererrhetorik pflegen. Wieso ist man unerfolgreich, wenn man nicht bis an das Lebensende das Gleiche macht, immer mehr verdient oder immer höher in veralteten Hierarchieformen angesiedelt ist? Warum dürfen Politiker*innen nicht ihre politischen Vorschläge ändern, wenn eine Zeitenwende eintritt? Wir gehen in unserer Kultur unheimlich hart miteinander um. Das steht einer lernenden Gesellschaft entgegen. Gerade wenn sich jetzt sehr viel sehr schnell ändert, sollten wir froh sein über die Bereitschaft, sich anzupassen, zu verändern, zu transformieren. Auch einmal etwas ganz Neues auszuprobieren. So können wir das schockbasierte Reagieren in gesellschaftliches lebenslanges Lernen normalisieren.
Welches Ausmaß an gesellschaftlichem und politischem Willen muss mobilisiert werden, um einen Wandel anzustoßen?
Wir alle haben dabei unterschiedliche Verantwortlichkeiten und unterschiedliche Rollen. Jede Entscheidung setzt einen Impuls für die Zukunft, ob wir das nun wollen oder nicht. Ich beschreibe das im Buch als „Wirks“, Menschen, die aufeinander wirken und damit Wirklichkeit kreieren. So hat mir das der Quantenphysiker Hans Peter Dürr mal beschrieben. Als Konsument*in kann ich mir bewusst machen, welche ökologischen und sozialen Konsequenzen ich mit meiner Kaufentscheidung bewirke. Als Mitarbeiter*in kann ich mich für eine Solaranlage auf dem Dach oder Ausgleichsflächen für Insekten auf dem Parkplatz einsetzen. Und dann gibt es natürlich diejenigen, die auf Produzentenseite und in der Politik in verantwortlicher Position sind. Dort werden Anreize und Regeln gesetzt, die für Viele die Freiheiten des Alltags vorstrukturieren – sei es Werbung für SUVs oder politische Rahmenbedingungen und ein Steuersystem, das bestimmte Entscheidungen und Verteilungseffekte beeinflusst. Wir sollten die Regelsetzer*innen nicht aus der Verantwortung lassen, indem sie die Verantwortung für die Entwicklung der Welt an die Individuen spielen.
Welche Rolle spielt die Wissenschaft in gesellschaftlichen Transformationsprozessen?
Für mich ist Wissenschaft eine organisierte Form, auf gesellschaftliche Fragen Antworten zu finden. Dazu muss man auch hören, welche Fragen in der Gesellschaft aufgeworfen sind. In der Wissenschaft braucht es dazu eine Bereitschaft, flexibel zu sein. Deshalb bin ich zur Transformationsforschung gegangen: Sie fängt immer mit einem persistenten Problem an und fragt unterschiedliche Disziplinen nach ihrem Blick darauf. Jede Disziplin stellt dabei unterschiedliche Realitätsausschnitte nach vorne, sodass man in der Summe zu einer neuen, vollständigeren Perspektive gelangt.
Dazu braucht es aber anders aufgebaute Forschungsteams und -designs, ein anderes Publikationswesen – weg von der hohen Schlagzahl – und längere Projekt- und Förderlaufzeiten.
Was bedeutet das für die Forschungspraxis?
Es braucht mehr Zeit, den Willen, sich öfter zu hinterfragen und guten Teamgeist. Ein gutes Beispiel sind Reallabore. Oft hat man gerade Vertrauen und ein Netzwerk aufgebaut und den Prozess institutionalisiert, wenn die Förderung ausläuft. Dann fehlt der Treiber; der gesamte Veränderungsprozess stoppt.
Gerade junge Leute, die zu Nachhaltigkeitsfragen forschen, merken, dass sie noch immer quer zu typischen Strukturen liegen – sei es den Organisationen der Wissenschaft und den Anreizsystemen der Exzellenz. Gerade wenn sie dann auch noch in die Kommunikation ihrer Erkenntnisse investieren wollen. Deswegen finde ich es so wichtig, auch hier die vorliegenden Strukturen zu flexibilisieren – diesmal die der Wissenschaft.
Wie muss eine Wissenschaftskommunikation aussehen, die komplexe, vernetzte Themen erklären will?
Nachhaltigkeit und die Kommunikation dazu sind Querschnittsthemen. Wir müssen dabei diskutieren, wie wir soziale, ökonomische und ökologische Faktoren zusammendenken und stärken können. Für mich hat die Wissenschaftskommunikation dabei drei unterschiedliche Rollen: das beste Wissen als interessensneutrale Instanz verständlich bereitzustellen, eine angepasste Service-Dienstleistung in Veränderungsprozessen anzubieten und aktiv zuzuhören.
Könnten Sie das noch einmal genauer erklären?
Ich verstehe Kommunikation als Dialog – und das geht für mich auch weiter als Transfer. Beim Wissenstransfer geht es darum, wissenschaftliche Erkenntnisse aufzubereiten und zu vermitteln, was man herausgefunden hat. Das kann in Form eines Briefings, Infografiken oder Diskussionsveranstaltungen geschehen. Wissenschaftskommunikation geht meines Erachtens einen Schritt weiter, sie entwickelt ein Gespür für die Fragen, die vorliegen und bei wem.
Die Scientists-For-Future versuchen das stark in der Beratung von zivilgesellschaftlichen Gruppen oder auch durch Stellungnahmen zur Klärung von Sachverhalten in der politischen Debatte zur Klimakrise. Als Wissenschaft haben wir den riesigen Vorteil, dass die Evidenzbasis, die aus der Wissenschaft kommt, natürlich anders zu bewerten ist, als bei Unternehmensberatungen oder anderen Akteuren, die interessengeleitet sind. Das ist gerade in Umbruchzeiten wichtig für Vertrauensbildung, also ein Schatz, den wir schützen sollten.
Zuletzt gilt es, mehr zuzuhören, welche Fragen gerade brennen und auch wo tolle neue Ideen, Erkenntnisse oder auch Designprinzipien erprobt werden, die durch wissenschaftliches Systematisieren und Codieren Verbreitung finden können.
Sie sind Wissenschaftlerin, Autorin, Speakerin, Politikberaterin, Wissenschaftskommunikatorin – in welcher Rolle sehen Sie sich vorwiegend?
Ich habe immer versucht, Antworten zu finden auf die Fragen, die mich am meisten beschäftigen. So bin ich in die unterschiedlichen Disziplinen gelangt und immer gerne transdisziplinär gearbeitet. Da bin ich sicherlich eine klassische Misfit, so habe ich die Nachhaltigkeitsforscher*innen im neuen Buch genannt. Es macht mir unglaublich Spaß, Muster zu erkennen, zu überlegen, wie ich damit Brücken bauen kann und wie der nächste gemeinsame Schritt aussehen kann. Dieses Hin-und-Her-Streben zwischen Denken dürfen und dann ein Angebot machen und hoffen, dass Menschen dadurch zum Handeln kommen, fasziniert mich.
Wie gelingt es, Brücken zu bauen?
Ich mache die Anleihen bei meinen natur- wie sozialwissenschaftlichen Kolleg*innen, um erst einmal den Wissensstand und den Kontext darzustellen. Der Auftakt meiner Präsentationen ist daher auch immer: Wo stehen wir? Jede Antwort kann nur angemessen bewertet werden, wenn ich zuvor geklärt habe, wie und in welchem Kontext sie entstanden ist und mit welchem Ziel. Das fehlt mir sehr oft, wenn Lösungen präsentiert werden. Ich mache dann konkrete Veränderungsvorschläge. Ob aus den Handlungsoptionen tatsächlich Handlungen folgen, liegt aber nicht in der Hand der Wissenschaft.
Sie gerieten zuletzt in die Kritik, weil sie die Mitarbeit des Journalisten Marcus Jauer an Ihren Büchern nicht öffentlich gemacht haben. Warum haben Sie sich zu einer Zusammenarbeit entschlossen?
Es hat viel mit lebenslangem Lernen zu tun, dass ich auch in Sachen hineinlaufe, die neu für mich sind, wie eben ein Sachbuch mit einem großen Verlag. Ich hatte um Unterstützung gebeten und mit Marcus Jauer wurde jemand gefunden, der toll zu mir und meiner Arbeit passte. Er wurde auf seinen Wunsch nicht erwähnt, auch wenn ich ihn mehrfach versucht habe, zu überreden. Vertraglich war das sein Recht. Mir haben viele Journalist*innen bestätigt, ebenfalls so zu arbeiten, auch mit Wissenschaftler*innen. Dass es in meinem Fall skandalisiert wurde, hat daher auch zu einem Medienecho geführt, das die ZEIT dafür kritisierte. Umso mehr hat mich die inszenierte Empörung bei einigen Kolleg*innen in der Wissenschaft erstaunt.
Wie viele Autor*innen stehen auf Peer-Reviewed-Publikationen, die darin noch nicht einmal ein Komma gesetzt haben, nur weil sie Lehrstuhlinhaber*innen oder Institutsleiter*innen sind? Das ist eine allgemein bekannte Praxis, die auch unglaublichen Frust bei Nachwuchswissenschaftler*innen auslöst. Das komplett auszublenden, um sich bei einem Sachbuch darüber aufzuregen, obwohl es dort die mitschreibende Person war, die ausdrücklich nicht genannt werden wollte, fand ich beschämend. Ich bin absolut bereit, die Debatte um Transparenz in kollaborativem Schreiben zu führen und warum richtig gute Schreiber*innen für die Öffentlichkeit uns dann vielleicht verloren gehen – aber dann bitte strukturell, und nicht um Einzelne zu diffamieren.
Was konnten Sie von einem Kommunikationsexperten wie Jauer für Ihre Wissenschaftskommunikation lernen?
Marcus Jauer ist Journalist. Bei der Zusammenarbeit hat es mir wahnsinnig gutgetan, dass er jemand ist, der tagein, tagaus öffentlich, persönlich und mit Storytelling schreibt. Wenn ich das nicht gelernt habe, wie soll ich es selbst anwenden? Das hat mich auch irritiert, dass davon ausgegangen wird, dass ich als Wissenschaftskommunikatorin alles allein können soll: Talkshowauftritte, Essays- und Bücher schreiben, Vorträge, Blogs, Interviews und Social Media, aber auch noch Journal-Artikel. Wir sind doch keine eierlegenden Wollmilchsäue. In der Wissenschaftskommunikation braucht es Teams.
Ich habe im Prozess zum Beispiel sehr viel darüber gelernt, wie ich ein Sachbuch stilistisch schreibe, wie ich eine Story aufbaue und auch einmal etwas weg lasse. Wo muss ich reduzieren? Bei welchen Themen mache ich ein neues Kapitel auf? Sehr häufig hatten wir die Diskussion, dass Passagen zu komplex waren und die Inhalte häppchenweise aufgebaut werden müssen. Wie der Wissensstand „da draußen“ ist und welche Beispiele verfangen, dafür waren Marcus Jauer und der meine Lektorin tolle Berater*innen. Das ganze Buch ist wie eine Reise gedacht. Wo lernt man das in der Wissenschaft?
Ihr Buch beginnt mit einem Zitat zu Hoffnung in ungewissen Zeiten. Was stimmt Sie zuversichtlich, dass wir die Transformation schaffen können?
Die Schriftstellerin Rebecca Solnit skizziert darin ganz gut den Wirklichkeitsrahmen zwischen Optimismus, für den man sich in Krisenzeiten wie heute schon rechtfertigen muss, und Pessimismus. Es geht darum, Handlungsräume zu beschreiben und loszulaufen. Ob und wie viele Menschen mitkommen, liegt außerhalb unserer Macht. Aber Dankbarkeit für das Leben und Verantwortung für seinen gesunden Erhalt zu übernehmen, auch wenn wir nicht wissen, wie das Morgen wird, ist eine schöne Energie und bereichert das Jetzt.
1 „Hoffnung gründet auf der Annahme, dass wir nicht wissen, was geschehen wird, und dass in der Weite der Ungewissheit Raum zum Handeln ist. Wenn Sie die Ungewissheit anerkennen, erkennen Sie, dass Sie in der Lage sein könnten, die Ergebnisse zu beeinflussen – Sie allein oder Sie in Zusammenarbeit mit ein paar Dutzend oder mehreren Millionen anderen. Hoffnung ist eine Umarmung des Unbekannten und des Unwissbaren, eine Alternative zur Gewissheit der Optimisten und Pessimisten.“ rebecca Solnit: Hope in the Dark. Untold Histories, Wild Possibili- ties. Chicago 2016, S. XIV
Das Interview ist auch auf Wissenschaftskommunikation.de erschienen.