Plattformlogiken und gesellschaftliche Kipppunkte

© Damian Gorczany/WiD
04. Dezember 2025

KI-optimierte Benachrichtigungen und Newsfeeds fordern ständig unsere Aufmerksamkeit. Sie verändern unseren Alltag, unsere Wahrnehmung – und die Demokratien weltweit. Damit sind Plattformen zu politischen Machtinstrumenten geworden. Im Panel beim Forum Wissenschaftskommunikation 2025 wurde diskutiert, wie die Wissenschaft die Einflussnahme politischer Akteur*innen durch soziale Medien nachweisen kann und welche korrektiven Möglichkeiten sich durch Wissenschaftskommunikation eröffnen.

von Simon Esser


KI-optimierte Benachrichtigungen, endlose Feeds und algorithmisch kuratierte News sind längst mehr als Komfortfunktionen. Sie lenken Aufmerksamkeit, verstärken bestimmte Inhalte und beeinflussen so, wie gesellschaftliche Wirklichkeit wahrgenommen und politisch verhandelt wird. Genau darum ging es im Panel „Gesellschaftliche Kipppunkte – der Einfluss von Aufmerksamkeitsökonomie und Plattformmacht auf Politik und gesellschaftliche Meinungsbildung“.

Mit Philipp Lorenz-Spreen (Center Synergies of Systems, TU Dresden) und Matthias Fejes (TU Dresden) diskutierte Moderator Michael Wingens, Wissenschaft im Dialog, wie Plattformen zu politischen Machtinstrumenten werden, wie Forschung ihren Einfluss nachweisen kann – und welche Rolle Wissenschaftskommunikation in diesem Spannungsfeld spielt.


Plattformen, Aufmerksamkeit und Kipppunkte

Philipp Lorenz-Spreen machte deutlich, dass Plattformen nicht nur Orte des Austauschs seien, sondern Systeme, deren Geschäftsmodell auf maximaler Bindung basiere. Dabei wirkten sogenannte Lock-in-Effekte: Nutzer*innen blieben nicht aus Überzeugung, sondern weil das Netzwerk dort ist. Das Wechselverhalten sei kein linearer Prozess, sondern folge Kipppunkten: Erst wenn eine kritische Masse erreicht ist, werde eine Alternative relevant. Interoperabilität – also die technische und soziale Anschlussfähigkeit zwischen Plattformen – wäre ein möglicher Hebel, um dieses Verhalten zu reduzieren.

Gleichzeitig äußerte Lorenz-Spreen Skepsis, ob demokratisch strukturierte Plattformmodelle in dieser Logik konkurrenzfähig sind: „Ich fürchte, dass eine Plattform, die nach demokratischer Logik fungiert, nicht mit einer algorithmischen Plattform wie TikTok mithalten kann.“ Echokammern sieht er nicht als ein rein algorithmisches Problem. Auch dezentrale Alternativen wie Mastodon könnten seiner Ansicht nach eher Polarisierung verstärken, wenn sie in ideologisch abgeschlossenen Teilöffentlichkeiten verbleiben.

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Wenn traditionelle Medien Teil der Plattformlogik werden

Ein zentrales Thema der Diskussion war das Verhältnis von Social Media und klassischen Medien. Lorenz-Spreen beschrieb ein ökonomisches Konkurrenzverhältnis, das zu starker Abhängigkeit geführt habe:

  • Inhalte seien zu lange kostenlos online angeboten worden.
  • Anzeigenmärkte brachen ein.
  • Reichweite werde zunehmend über Plattformen eingekauft oder erhofft.

Die Folge: Klassische Medien passten sich häufig der Clickability-Logik der Sozialen Medien an. Zuspitzung, Personalisierung und Konfliktinszenierung funktionieren auch hier als Reichweitenmotoren. Diskurse, die auf Plattformen von kleinen, sehr aktiven Gruppen getrieben werden, können so in traditionelle Öffentlichkeiten „überschwappen“ und dort als Mehrheitsmeinung erscheinen.

Lorenz-Spreen warnte davor, dass diese Kopplung Polarisierung verstärke – und dass gerade kleinere Medienhäuser sich dem Sog der Aufmerksamkeitsökonomie kaum entziehen könnten.

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Regulierung, Datenzugang und geopolitische Konflikte

Warum nicht einfach stärker regulieren oder Plattformen verbieten, schlug eine Person aus dem Publikum vor. Lorenz-Spreen verwies auf die geopolitische Dimension: Die EU setzte den Digital Services Act (DSA) bislang nur zögerlich durch und stehe unter massivem politischen Druck durch die USA.

Ein Schlüsselproblem bleibe der Zugang zu Plattformdaten für die Forschung. Der DSA sehe einen solchen Zugang vor, doch der Weg sei lang: Anträge müssten durch nationale Behörden an Plattformen in Irland weitergeleitet werden und seien mit Rechtsrisiken verbunden. Für die Forschung bedeute dies: Die Blackbox bleibe oft geschlossen und kausale Effekte seien schwer nachzuweisen.

Lorenz-Spreen nannte zugleich erste Anzeichen, dass Regulierung wirken kann – etwa wenn süchtig machende Design-Mechanismen wie Micropayments für Scrollen bei TikTok eingeschränkt werden.

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Wissenschaftskommunikation zwischen Faktentreue und Lagerlogik

Wie kommunizieren, ohne Polarisierung zu befeuern? Lorenz-Spreen formulierte drei Leitlinien, die im Panel mehrfach aufgegriffen wurden:

  1. Nur sagen, was wir wissen.
  2. Auch sagen, was wir nicht wissen.
  3. Offen benennen, wenn bessere Daten nötig sind.

Damit stellte er sich gegen Alarmismus und gegen die Versuchung, sich zu schnellen Schwarz-Weiß-Urteilen drängen zu lassen. Wissenschaft müsse Komplexität sichtbar machen, auch wenn öffentliche Formate oft Eindeutigkeit verlangen.

Gleichzeitig machte er auf die Logik der Plattformen aufmerksam: Simplifizierung werde belohnt. Sie bringe Likes. Lagerdenken („wir vs. die“) erzeuge affektive Polarisierung. Wissenschaftskommunikation stehe damit in einem strukturell ungünstigen Umfeld, wenn sie differenzieren will.


Neutralität, Aktivismus und Rollenklärung

Matthias Fejes vertiefte die Frage nach der Rolle von Wissenschaft in politisierten Öffentlichkeiten. Ab wann wird Wissenschaft normativ, wann beginnt Ideologie? Seine Beobachtung: In vielen Polittalk-Formaten gehe es nicht um argumentatives Abwägen, sondern um Arena-Logik – Positionen würden gegeneinander gestellt.

Im Spannungsfeld zwischen Aktivismus und Wissenschaft plädierte Fejes für klare Rollenmarkierung. Wer sich als Bürger*in äußert, könne politisch agieren – wer als Wissenschaftler*in spricht, solle die eigene Meinung zurückhalten. Beides dürfe sich überlappen, solle aber transparent gemacht werden.

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Debattenfähigkeit und institutionelle Verantwortung

Ein wiederkehrendes Motiv war die Frage, ob Gesellschaft und Demokratie noch ausreichend debattenfähig sind. Diskutiert wurde:

  • gesunkenes Vertrauen in klassische Medien,
  • das Versprechen sozialer Medien, Teilhabe zu ermöglichen,
  • gleichzeitig die wachsende Schwierigkeit, andere Positionen auszuhalten.

Fejes brachte hierfür das Bild des „kognitiven Geizkragens“ ein: Abweichungen von der eigenen Sicht kosteten Energie; Alterität werde als Belastung erlebt. Umso wichtiger sei es, in Debatten zu gehen statt nur zu senden – und Alterität sichtbar zu machen.

Dabei betonte er auch, dass Institutionen in der Pflicht seien, Wissenschaftler*innen, die sich öffentlich äußern, zu schützen. Wenn sich Forschende öffentlich positionieren, brauchten sie Rückhalt. Die Ressourcenknappheit der Kommunikationsabteilungen bei gleichzeitigen Angriffsdynamiken auf Plattformen sei eine zentrale Herausforderung für gute Dialogarbeit.