Mit den Menschen reden statt über Desinformation

Portrait von Matthias C. Kettemann
© Foto: HIIG
20. Februar 2025

Desinformation – gar nicht so schlimm? In unserem dritten Lunchtalk der Reihe „Der digitale Wandel der Wissenschaftskommunikation“ haben wir Matthias C. Kettemann gefragt, ob Desinformation weniger die Meinungsbildung beeinflusst, als es in der gängigen Debatte den Eindruck erweckt, wo Wissenschaftskommunikation ansetzen kann und welchen rechtlichen Rahmen es gibt, um Plattformen zu regulieren.

von Alena Weil

Die dritte Ausgabe unserer Lunchtalk-Serie war bewusst provokant überschrieben: „Überschätzen wir Desinformation?” Das wollte WiD-Geschäftsführer Benedikt Fecher von Matthias C. Kettemann wissen. Dabei ging es auch um die Frage, ob wir den Einfluss von Desinformation auf die Meinungsbildung überschätzen, wie weit Meinungsfreiheit reicht und welche rechtlichen Rahmenbedingungen es gibt.

Die Grenzen der Meinungsfreiheit

Zunächst einmal muss Desinformation definiert werden. Desinformation sei eine „strategisch lancierte, falsche Aussage”, sagt Kettemann. Misinformation hingegen sei nur eine falsche Aussage, die nicht unbedingt einen strategischen Hintergrund haben müsse. Darüber hinaus gibt es noch den Begriff Fake News. Dieser beschreibe etwas Ähnliches wie Desinformation, werde allerdings von der Fachcommunity gemieden, da er von US-Präsident Donald Trump geprägt worden sei.

Dessen Vizepräsident J.D. Vance sprach Mitte Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Anstatt zur Sicherheitspolitik zu sprechen, nutzte er die Bühne, um ein Narrativ zu verbreiten. Die Erzählung gibt vor, sich mit der Meinungsfreiheit in Europa auseinanderzusetzen. Kettemann erklärt, die USA verbreitete dieses Narrativ derzeit global. Sie stelle jede Form von Regulierung als Unfreiheit dar. Rechtswissenschaftler Kettemann widerspricht dieser Erzählung. Die Aussage, Redefreiheit gehe nur ohne Regulierung, verkenne „fundamental sowohl das amerikanische Konzept der Redefreiheit als auch das europäische Konzept der Meinungsäußerungsfreiheit”, sagt Kettemann. „Wir alle wissen: Es gibt Grenzen für die Meinungsäußerungsfreiheit.”

Die gesetzlichen Grenzen der Meinungsfreiheit seien jedoch nur an den gesellschaftlichen Rändern wichtig, betont Kettemann. „Da wo es wirklich sozial hoch abträglich ist, wenn darüber gesprochen wird.” In Deutschland sei das etwa der Fall, wenn jemand den Holocaust leugnet. Auf den sozialen Medien spiele das Recht hingegen eine geringe Rolle. Die meisten problematischen Inhalte seien nicht rechtswidrig. So sei auch Desinformation nicht per se illegal. Trotzdem könnten solche Inhalte negative Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben, insbesondere dann, wenn sie durch Algorithmen gepusht werden. „Und dann stehen wir vor dem Scherbenhaufen des Rechts”, sagt Kettemann, denn man könne nicht alle diese Inhalte verbieten, “das wäre in einer liberalen Demokratie nicht möglich.”

Das heißt aber auch nicht, dass man gar nichts tun kann. Auch wenn die Inhalte keine strafrechtliche Relevanz hätten, könne man durchaus juristisch aktiv werden. Kettemann nennt als Beispiel das Gesetz über digitale Dienste (englisch Digital Services Act, DSA). Dieses schreibe Plattformen unter anderem vor, dass sie offenlegen müssen, wie sie moderieren, welche Sanktionsmöglichkeiten es gibt und welche Risiken ihre Algorithmen für die Gesellschaft bergen.

Sollten wir weniger über Desinformation sprechen?

Aber welche Gefahr geht überhaupt von Desinformation aus? Sind gezielte Falschinformationen eine Gefahr für unsere Demokratie? Kettemann sagt: „Wir müssen vorsichtiger über Desinformation sprechen.” Desinformation habe in westlichen Gesellschaften einen geringen – und vor allem keinen nachweisbaren Einfluss – auf Meinungsbildungsprozesse. Dies hätte unter anderem die Studie des Observatory on Information and Democracy ergeben, an der Kettemann mitgewirkt hat.

Unter dem Titel „Information ecosystems and troubled democracy” haben die Autor*innen eine vergleichende Metastudie zu Misinformation und Desinformation in 84 Ländern durchgeführt. Dabei haben sie 65 Themen – von grundlegenden Themen wie Menschenrechten über die Frage nach algorithmischer Fairness bis hin zu Plattformstrategien gegen Desinformation – analysiert und rund 1.600 Quellen zitiert.

Dabei konnten sie keine Belege finden, dass Desinformation die Meinungsbildung in demokratischen Gesellschaften zerstört. Kettemann erklärt: Natürlich könne es sein, dass einzelne Personen aufgrund von Desinformation abdriften. Doch insgesamt seien Meinungsbildungsprozesse viel komplexer, als wir annehmen.

Was die Studie hingegen zeigte: Es sei vielmehr der Diskurs über Misstrauen selbst, der das Misstrauen gegenüber Medien erhöhe. Wenn Menschen ständig von Desinformation hören, seien sie in der Folge misstrauischer, wenn sie mit neuer Information konfrontiert werden. Der Rechtswissenschaftler vergleicht diese Reaktion mit der Reaktion des Immunsystems bei Allergien – “ein bisschen übersensibel”. Daraus ergibt sich ein Dilemma. Man müsse schon über Desinformation sprechen, so Kettemann, aber zu viel könne eher kontraproduktiv sein.

Eine andere Situation zeigte die Studie in den Ländern des globalen Südens. Dort werde weniger über Desinformation gesprochen, zugleich sei die Bekämpfung eben jener eine große Herausforderung, erklärt Kettemann. Dies liege an einer geringeren Medien- und Informationskompetenz der Bürger*innen, welche wiederum mit dem Bruttoinlandsprodukt korreliere. Gerade in diesen Ländern habe Desinformation einen größeren Einfluss, auch weil etwa Russland und China Länder in Südostasien und in Subsahara-Afrika als „Spielort von Desinformationsinitativen nutzen.”

Medientraining beim Schäferhundverein

Wie sollen wir also nun umgehen mit Desinformation? Kettemann sagt, dass es nicht immer reiche, mit Fakten zu argumentieren. Menschen wendeten sich Desinformation zu, weil sie echte Ängste hätten. Beispiel Impfgegner*innen: Diese machten sich wirklich Sorgen, kämen aber dabei zu den falschen Schlüssen. In so einer Situation komme man mit Fakten nicht an die Menschen heran, sondern müsse sie “bei den Gefühlen packen” und Perspektiven aufzeigen. Zudem dürfe man solche Gruppen nicht allein lassen. Kettemann fordert, den gesellschaftlichen Diskurs offenzuhalten. „Es darf einfach niemand aufgegeben werden. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist zu wichtig, als dass wir sagen, ganze Gruppen verlieren wir.”

Im Umgang mit Desinformation betont Kettemann zudem die Bedeutung der Medienkompetenz. Diese Kompetenz zu schaffen und zu stärken sei nicht nur Sache der Schulen, sondern eine „gesamtgesellschaftliche Aufgabe.” Um alle Menschen zu erreichen, könne man nicht nur über die Bildungsinstitutionen gehen, sondern müsse auch offen für unkonventionelle Lösungen sein, so Kettemann. „Warum nicht beim Schäferhundeverein an einem Abend mal über Medienkompetenz sprechen?” Genauso müsse sich die Wissenschaftskommunikation auch mehr trauen. Zum Schluss des einstündigen Lunchtalks hielt Kettemann daher ein Plädoyer für eine mutige, zielgerichtete Wissenschaftskommunikation. Forschende müssten häufiger „aus den Büros rausgehen. Und vor allem die Schlüsse, die wir ziehen, zielgruppengerecht aufbereiten.”

„Wir wissen viel mehr, als wir eigentlich denken”, sagt Kettemann, „aber wir sind noch nicht bestens darin, dieses Wissen auch gesellschaftsrelevant zu machen.”


Matthias C. Kettemann ist Professor für Innovation, Theorie und Philosophie des Rechts am Institut für Theorie und Zukunft des Rechts an der Universität Innsbruck. Nach seiner Promotion und Habilitation in Völkerrecht und Internetrecht an der Goethe-Universität Frankfurt leitete er mehrere Forschungsprojekte, darunter am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft und am Leibniz-Institut für Medienforschung (HBI). Prof. Kettemann ist assoziierter Forscher am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Mitglied des Netzwerks „Human Factor in Digital Transformation“.