„Die Sprache spiegelt gesellschaftliche Verhältnisse wider.“
In Vorträgen, inszenierten Videos und in den sozialen Medien reden Menschen anders als sie es spontan im Alltag tun würden. Warum das ein Problem für Sprachwissenschaftler*innen sein kann und wie eine Sprachspende der Forschung helfen kann, erklärt Henning Lobin vom Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim.
von Ursula Resch-Esser
„Auf den Punkt gebracht“ – unter diesem Motto rückt das Forum Wissenschaftskommunikation 2021 das Zusammenspiel von Wissenschaftskommunikation und Sprache in den Fokus. Professor Henning Lobin vom Leibniz-Institut für Deutsche Sprache wird auf dem Forum in der Session "Das Forum Deutsche Sprache oder: Was ist eigentlich eine Sprachspende?" als Referent zu hören sein. Mit ihm haben wir über authentische Spontansprache, die Aufgabe des Forum Deutsche Sprache und aktuelle Entwicklungen in der Deuschen Sprache geredet.
Herr Lobin, was ist eine Sprachspende?
Eine Sprachspende ist Sprachverhalten in schriftlicher oder mündlicher Form oder Meinung zur Sprache, die Sprecherinnen und Sprecher uns Sprachwissenschaftlern übergeben, damit wir Sprache besser erforschen können. Erhalten wollen wir diese Sprachspenden von den Besucherinnen und Besuchern in einem zukünftigen Forum Deutsche Sprache.
Im Internet finden sich geschriebene und gesprochene Texte, Videos, digitalisierte historische Schriften. Warum brauchen Sie solche Sprachspenden?
Wir finden zwar im Internet gesprochene Sprache, aber das ist normalerweise keine ungefilterte Spontansprache. Das sind oftmals vorbereitete und inszenierte Situationen. Als Quelle für echte Spontansprache fällt das aus. Authentisch verwendete Sprache ist aber genau das, was eigentlich die Basis der Sprachwissenschaft ist.
Das sehr viel größere Problem ist aber, dass wir derartige Sprachzeugnisse nicht einfach übernehmen und in unsere Textsammlungen – unsere Corpora – überführen dürfen. Wir müssen urheberrechtliche, persönlichkeitsrechtliche und datenschutzrechtliche Regelungen beachten. Das heißt, wir müssten die Leute fragen. Aber stellen Sie sich vor, Sie bekommen von irgendjemandem eine E-Mail, der sie fragt, dürfen wir Ihre WhatsApp-Kommunikation haben. Dann würden sie wahrscheinlich Nein sagen.
Und da kommt das Forum Deutsche Sprache ins Spiel?
Ja, die Idee war ursprünglich einmal ein Museum zu errichten. Wir haben hier am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache Sprachdaten, die auszustellen sich lohnen würde, und auch die Kompetenz so etwas zu machen. Aber dann haben wir uns überlegt, dass die Menschen, die da hinkommen, ja alle etwas Entscheidendes mitbringen – nämlich ihre eigene Sprache. Das ist genau das, was wir ja auch untersuchen wollen. Warum verbinden wir das nicht? Wir informieren in einer Ausstellung über verschiedene Bereiche der Sprachnutzung, der Sprachentwicklung und der Sprachforschung. Aber wir drehen den Spieß anschließend um und fragen die Leute danach, was sie uns mitgebracht haben. Wir möchten wissen, in Gestalt von solchen Sprachspenden, wie ihre eigene Sprache aussieht.
Mit dieser Kombination von Vermittlung von Sprache durch eine Ausstellung und bürgerwissenschaftliche Beteiligung wollen wir dieses große Problem, wie man authentische Sprachdaten bekommt, bei denen man auch ganz genau weiß, dass man sie benutzen darf, einer Lösung näherbringen. Diese Idee hat auch die Klaus Tschira Stiftung interessiert und ich glaube auch begeistert, so dass wir im Verbund mit der Stadt Mannheim, der Klaus Tschira Stiftung und der Leibniz-Gemeinschaft dieses Konzept eines Forums Deutsche Sprache umsetzen werden.
Die Klaus Tschira Stiftung ist ja eher im MINT-Bereich tätig, wie passt dazu das Thema Sprache?
Ich kann nicht für die Klaus Tschira Stiftung sprechen, aber ich denke auch für die Stiftung ist die Distanz zwischen einer Sprachwissenschaft, die mit realen Sprachdaten arbeitet und diese in einem bürgerwissenschaftlichen Sinne erhebt, und den bisherigen Projekten, die sie fördert, gar nicht so groß. Wir haben es bei der Linguistik mit einer empirisch arbeitenden Disziplin zu tun und mit einer bestimmten Form von Wissenschaftskommunikation, was in anderen Projekten der Klaus Tschira Stiftung ebenfalls eine zentrale Rolle spielt. Hinzu kommt, dass Sprache ja auch für die Wissenschaftskommunikation eines der ganz wichtigen Instrumente ist.
Wie wollen Sie Bürgerinnen und Bürger im Forum Deutsche Sprache an der Forschung beteiligen?
Wir können uns vorstellen, dass wir Sprachspenden nicht nur in dem entstehenden Gebäude erheben, sondern dass das Forum das Zentrum eines Netzwerks von Menschen ist, die uns helfen, Sprache zu erheben und diese Spracherhebung weiter zu begleiten. Bei gesprochener Sprache spielt die Umsetzung in eine transkribierte Form eine sehr große Rolle. Wenn es etwa um dialektale Texte geht, wäre es von großem Interesse, wenn Dialektsprecherinnen und -sprecher uns bei der Erhebung und Transkription helfen.
Es gibt eine Tradition in der Sprachwissenschaft, mit Bürgerwissenschaftlerinnen und Bürgerwissenschaftlern zusammen zu arbeiten. Die Belege, die beispielsweise ins Grimm‘sche Wörterbuch eingeflossen sind, sind vielfach von interessierten Laien erhoben und teilweise ausgewertet worden. Ich glaube, das wird mit dem Forum Deutsche Sprache ein noch sehr viel größeres Gewicht erhalten, weil wir dort eine Infrastruktur zur Verfügung haben werden, solche Kooperation realisieren zu können.
Welche aktuellen Entwicklungen in der deutschen Sprache würden Sie gerne besser dokumentieren?
Es gibt zwei ganz wichtige Bereiche, in denen wir sehr wenig wissen. Einmal der Bereich der Mehrsprachigkeit, beziehungsweise des Sprachkontakts und wie er sich in einem vertrauten Umfeld darstellt. Wir wissen natürlich wie die Sprachverwendung schulisch aussieht. Aber wie sieht es beispielsweise in mehrsprachigen Familien aus? Wie ist dort die Sprachnutzung verteilt? In welcher Weise werden durch die Sprachverwendung bestimmte Kompetenzen in einer Sprache trainiert?
Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, weil wir in einer sehr stark durch Vielfalt geprägten Gesellschaft leben und diese Vielfalt eben auch eine sprachliche Vielfalt ist. Wie sich die konkrete Sprachverwendung über den ganzen Tag hinweg bei einer Person beliebiger Herkunft im Einzelnen darstellt, haben wir noch nicht erfasst. Das ist sehr wichtig für Fragen der sprachlichen Bildung, Fragen der sprachlichen Integration von Migranten und für Einblicke in die sprachliche Realität ganz allgemein, wie sie sich in Deutschland heutzutage darstellt.
Welches ist der andere Bereich?
Das ist der große Bereich der Digitalisierung. Etwa durch die Nutzung von Sprachassistenten wie Alexa oder Siri müssen wir mittlerweile davon ausgehen, dass nicht nur Menschen die Sprachentwicklung beeinflussen, sondern dass sie zu einem Teil von künstlichen Systemen mit beeinflusst wird. Stellen Sie sich ein Kind vor, das zu Hause mit einem Gerät wie Alexa aufwächst. Das hat eine algorithmisch erlernte, vorprogrammierte Sprachfähigkeit und setzt diese mit einer künstlichen Stimme ein, die sich eben nicht auf das Kind einstellt, wie es Erwachsene tun. Mit einem ganz bestimmten Wortschatz, mit ganz bestimmten Formulierungen und natürlich auch durch die Schaffung kindgerechter Kommunikationssituationen. Das wird die Sprache beeinflussen und ich gehe davon aus, dass es das schon tut. Auch beim Schreiben auf Smartphones beispielsweise, gibt es Veränderungen in Abhängigkeit von den integrierten Vokabularien. Bestimmte Wörter, die vorgeschlagen werden, werden eher genutzt als Wörter, die Buchstabe für Buchstabe eingegeben werden müssen.
Welche aktuellen Entwicklungen im Sprachgebrauch könnten Sie sich in vier Jahren, wenn das Forum Deutsche Sprache öffnet, in Exponaten vorstellen, etwa zur Corona-Pandemie oder zum Gendern?
Sie sprechen zwei Punkte an, mit denen wir hier im Institut für Deutsche Sprache und sicherlich auch im Forum Deutsche Sprache sehr intensiv konfrontiert sind. Das Thema Corona ist ein Beispiel dafür, wie kreativ eine Sprache ist und in welcher Fülle der Bedarf nach Wörtern durch neue Sachverhalte hervorgerufen wird. Wir haben mittlerweile über 1500 Neubildungen erfasst, die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie entstanden sind. Das zeigt, in welchem Maße eine Sprache immer auch ein Abbild dessen ist, was in einer Gesellschaft gerade stattfindet.
Und genau das ist der Grund, warum auch das zweite Thema – geschlechtergerechte Sprache – gegenwärtig ein so umfassendes Thema ist. Die Sprache spiegelt gesellschaftliche Verhältnisse wider, allerdings meistens mit einer gewissen Verzögerung. In unserem Wortschatz, aber auch in bestimmten morphologischen Strukturen, haben wir gewissermaßen Zustände codiert, die sich in den letzten Jahrhunderten herausgebildet haben. Nun haben sich aber die gesellschaftlichen Verhältnisse in letzter Zeit recht schnell deutlich verändert. Es gibt ein größeres Selbstbewusstsein einzelner gesellschaftlicher Gruppen, was sich auch sprachlich niederschlägt, so dass die Sprache hier Interessen unterliegt, diese gesellschaftlichen Veränderungen stärker sichtbar zu machen.
In Bereichen, für die wir sprachliche Formen haben, funktioniert das ganz gut. Beispielsweise bei der sprachlichen Sichtbarmachung von Frauen. Die Kennzeichnung nicht binärer Geschlechter dagegen ist sprachlich nur in sehr geringem Maße angelegt. Durch Formulierungen oder eben auch durch ganz neue Kennzeichnungen wie etwa den Genderstern und andere typografische Formen, wird dieses Anliegen besonders deutlich sichtbar. Das Problem ist, dass darüber gegenwärtig nicht nur sprachbezogen diskutiert wird, sondern das Thema zugleich auch eine sprachpolitische und sogar eine allgemeinpolitische Aufladung erfahren hat. Wir diskutieren da immer auf mehreren Ebenen gleichzeitig. Dadurch wurde diese Kontroverse enorm aufgeheizt. Ich nehme an, dass wir in einigen Jahren da keineswegs mehr eine so hitzige Diskussion haben.
Was erwartet die Teilnehmenden beim Forum Wissenschaftskommunikation in der Session zum Forum Deutsche Sprache und was erwarten Sie von den Teilnehmenden?
Wir hoffen, dass wir eine Diskussion anfachen können, indem wir einerseits auf die Rolle von Sprache in der Gesellschaft Bezug nehmen, zum anderen die Rolle von Sprache in der Wissenschaftskommunikation thematisieren wollen. Und wir möchten diskutieren, wie das wiederum auf einen neuartigen Zugang zu Wissenschaftskommunikation in Bezug auf sprachliche Themen umgemünzt werden kann. Wir sind sehr interessiert daran, wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Zusammenhänge sehen und bewerten. Und vielleicht auch Zusammenhänge herstellen, die wir bislang nicht im Blick haben.