Die Macht von Plattformen und die „Krise der Faktizität”

In der zweiten Ausgabe unserer Lunchtalk-Serie „Der digitale Wandel der Wissenschaftskommunikation“ haben wir unter dem Motto “Unterschätzen wir die Macht von Plattformen?” mit David Kaldewey darüber gesprochen, welche Rolle digitale Infrastrukturen in der „Krise der Faktizität” spielen.
von Simon Esser
In der zweiten Ausgabe unserer Lunchtalk-Serie sprach unser Geschäftsführer Benedikt Fecher mit David Kaldewey darüber, wie ein Rollenwandel digitaler Infrastruktur mit der „Krise der Faktizität“ zusammenhängt. Dabei ging es auch um die Frage, wie mächtig Plattformen sind und wie sich die Wissenschaftskommunikation zu dieser Macht verhalten sollte. David Kaldewey sprach zunächst über die Wurzeln des Begriffs „Krise der Faktizität”.
Die „Krise der Faktizität”
So markierten die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten und die Brexit-Entscheidung den Beginn einer breiten Diskussion über den Zusammenhang zwischen Demokratie, Wahrheit und Wissen. Unmittelbar nach der Wahl Trumps wurde der Begriff „Post-Truth“ - zu deutsch Postfaktizität - von den Oxford Dictionaries zum Wort des Jahres gewählt. Zur Amtseinführung der Trump-Regierung 2017 bestand Wahlkampfmanagerin Kellyanne Conway aller Fotos zum trotz darauf, dass die Anzahl der Teilnehmer*innen an der Amtseinführung jener von Obama überstiegen habe. Der Begriff der alternativen Fakten war geboren. Da dieser Begriff die vorherrschende Definition von Fakten angriff, sei die Wissenschafts- und Journalismus-Community entsetzt gewesen, sagt Kaldewey. Die Soziologin Silke van Dyk habe im deutschen Sprachraum den Begriff der „Krise der Faktizität” geprägt.
Seitdem habe die Frage, wie wir öffentlich mit wissenschaftlichen Fakten und wissenschaftlichen Wissen umgehen, eine völlig neue Bedeutung erreicht: Erst im Zuge der COVID-19-Pandemie sei das Sprechen über sogenannte „alternative Fakten” systematisch auf den Bereich der Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation übertragen worden - im Kontext von wissenschaftlicher Politikberatung und der Frage, welche Rolle wissenschaftlicher Expertise zustehe. Die „Krise der Faktizität“ könne nicht isoliert betrachtet werden, sagt Kaldewey. Vielmehr durchziehe sie als Metakrise viele gesellschaftliche Großprobleme. Sie trete immer dann zutage, wenn es um politisierte Themen gehe: "Im Alltag verwenden die Menschen von früh bis spät wissenschaftliches Wissen und zweifeln da gar nicht dran", sagt Kaldewey.
Kaldewey kritisiert den Begriff der „alternativen Fakten“. Die Realität der Fakten sei nicht binär: vielmehr existierten "Halbwahrheiten" – ein Gemisch aus plausiblen, verzerrten und irreführenden Informationen. Wissenschaftskommunikation sollte sich daher nicht allein auf Fact-Checking und das Aufzeigen von Falschinformationen beschränken. Vielmehr müsse sie die Komplexität wissenschaftlichen Wissens vermitteln und verdeutlichen, wie wissenschaftliche Erkenntnisse entstehen und sich weiterentwickeln.
Digitale Infrastrukturen in der „Krise der Faktizität”
Was bedeutet das für Kommunikations-Infrastrukturen? Jüngeren dienten Social-Media-Plattformen als primäre Informationsquelle, bei den Älteren sei es die zweitwichtigste Quelle nach dem Fernsehen, sagt Kaldewey. Eine stringente Trennung zwischen diesen Medien sei jedoch nicht mehr zeitgemäß: Social Media habe eine intermediale Form etabliert: „Leute lesen ja oft Zeitung heute, indem sie über die Social Media auf einen Artikel stoßen, den sie dann anklicken, und nicht weil sie die Zeitung in der Hand haben und die durchblättern“. Kaldewey sieht es daher als eine Gefahr, wenn Plattformen externe Links algorithmisch bestrafen.
Er beschreibt Plattformen als eigenständige Player: Zwar seien in der aktuellen Debatte Beispiele von Plattformbesitzer*innen prominent, die sich selbst in den Vordergrund spielen, jedoch brauche es “keine Person mit bösen Absichten dahinter“, dass es zu Diskriminierung von Inhalten oder Nutzer*innen kommt. Algorithmen hätten eine Eigenlogik, eine Polarisierung ergebe sich bereits aus den Infrastrukturen, die wiederum ökonomischen Interessen der Plattformbetreiber unterliegen. Sie seien so angelegt, dass sie jenen Content bevorzugen, der die Menschen am meisten anspricht. Demgegenüber schätzt Kaldewey an Social Media, dass sie es uns erlauben, in hoher Geschwindigkeit Informationen zu verarbeiten und zu verbreiten, ebenso wie die Möglichkeiten für Interessierte, sich aktiv am Diskurs zu beteiligen.
Die Frage, ob Social-Media-Plattformen angesichts ihrer Algorithmen überhaupt geeignete Orte für Wissenschaftskommunikation sind, für das Sprechen über die Komplexität von Wissen und die Unsicherheit von Wissen, weist Kaldewey zurück. Es gehe nicht darum, ob Social Media geeignet sind, sondern darum, dass sie die Orte sind, an denen Kommunikation stattfindet. Empirische Studien zum Informationsverhalten zeigten: Menschen suchen und finden Informationen dort, wo sie ohnehin kommunizieren. Heute seien das Plattformen wie Instagram, TikTok oder YouTube. Wissenschaftler*innen, die ihre Forschung kommunizieren möchten, könnten sich ihre Kommunikationskanäle nicht aussuchen, sondern seien mit einer soziokulturellen Evolution konfrontiert. Sie definiere die Art und Weise, wie Wissen verbreitet wird. Wissenschaftskommunikation müsse dort stattfinden, wo die Menschen bereits sind, und sich an deren Kommunikationsgewohnheiten anpassen. Die Frage sei also nicht ob, sondern wie Wissenschaft dort verständlich, glaubwürdig und wirkungsvoll vermittelt werden kann.
Macht und Gegenmacht
Doch sind wir einer solchen soziokulturellen Evolution ausgeliefert oder haben wir Agency und können selbst eine Veränderung herbeiführen? Im Lunchtalk wird der Rückzug vieler Wissenschaftler*innen von X diskutiert. Für Kaldewey eine zwiespältige Entscheidung. Einerseits sei es eine Möglichkeit, problematische Entwicklungen auf der Plattform nicht zu unterstützen. Andererseits habe der Ausstieg Folgen: Die Plattform bleibe bestehen, während sich wissenschaftliche Akteur*innen in alternative Netzwerke zurückziehen, die oft weniger Reichweite und Durchschlagskraft hätten. Dies verstärke die Fragmentierung des digitalen Öffentlichkeitsraums. Der Verlust von Twitter sei deshalb so schmerzhaft, weil er dort vor der Übernahme von Musk eine große Pluralität auf einer Plattform erlebt habe, so Kaldewey. Auf der Plattform sei eine sehr heterogene Gruppe unterwegs gewesen. Das habe ihm als Soziologen eine gute Chance gegeben, zu beobachten, wer wie interagiert. Ein Teilnehmer schlägt vor, diese Leerstelle aktiv zu füllen und fragt: „Welche Funktionalität muss eine Plattform erfüllen, damit die Menschen, die Pluralität schätzen, sich dort gut aufgehoben fühlen?“
„Evolution ergibt sich aus einer Vielzahl von Einzelentscheidungen“, sagt Kaldewey. Natürlich könnten neue Plattformen entstehen. Kaldewey warnt jedoch vor schnellen Lösungen und plädiert für einen langen Atem beim Erproben neuer Plattformen: Er begrüße, wenn in fünf oder zehn Jahren eine alternative, möglicherweise bessere Infrastruktur existiere. Konzepte wie das Fediverse oder dezentrale Plattformen seien vielversprechend, hätten sich aber bisher nicht als tragfähige Alternativen etabliert. Ein wesentliches Problem bleibt für Kaldewey dabei das Erreichen einer kritischen Masse an User*innen.
Pluralität in einer Plattform versus Pluralität der Plattformen
Derzeit beobachte er eine Pluralisierung an Plattformen. Für die Zukunft sieht er zwei Szenarien: Entweder setzten sich in einem evolutionären Kampf die besseren durch. Oder es bildeten sich viele verschiedene Plattformen für viele verschiedene Interessen; das halte er für die wahrscheinlichere Option. Für die Wisskomm könne daher eine Strategie sein, sich nicht nur auf eine zentrale Plattform zu konzentrieren, sondern auf verschiedenen Kanälen präsent zu sein, um unterschiedliche Zielgruppen bestmöglich zu erreichen. Als Verständigungsplattformen innerhalb der Wissenschafts-Community könnten etwa das Fediverse, Bluesky und LinkedIn dienen. Für andere Zielgruppen sei es schwieriger: „Ich glaube, dass wir die Macht der Plattformen eher unterschätzen. Es ist die kommunikative Realität, die wesentlich auf diesen Plattformen stattfindet. Hier verbringen die Menschen täglich viele Stunden ihrer Zeit.“
David Kaldewey ist Direktor der Abteilung Wissenschaftsforschung am Forum Internationale Wissenschaft (FIW) und geschäftsführender Direktor des FIW seit 2020. Zuvor leitete er von 2014 bis 2018 die Nachwuchsforschergruppe „Entdeckung, Erforschung und Bearbeitung gesellschaftlicher Großprobleme“ und war von 2018 bis 2021 Inhaber der Professur „Wissenschaftsforschung und Politik“ der Stiftung Mercator. Seit 2021 ist er Co-Sprecher des Rhine Ruhr Center for Science Communication Research (RRC). Seine Forschungsschwerpunkte umfassen u.a. die wissenschaftspolitische Sprache im historischen Wandel, die Identitätsarbeit von Wissenschaftler*innen in Fachkulturen und die Krise der Faktizität in der Wissenschaftskommunikation.
Am Mittwoch, den 19. Februar 2025, 12-13 Uhr sprechen wir mit Matthias C. Kettemann zum Thema "Überschätzen wir Desinformation?". Wir diskutieren über Studie “Information ecosystem and troubled democracy”, Plattformregulierung und die normative Ordnung des Internets.
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