„Freiheit gelingt dann, wenn Menschen Verantwortung übernehmen”
Was bedeutet Freiheit? Wie leben wir Demokratie und Freiheit? Und welche Verantwortung hat die Forschung? Darüber diskutierten Joachim Gauck, Bettina Stark-Watzinger, Gwendolyn Sasse und Emilia Henkel im Rahmen der Debattenreihe Freiheitsperspektiven.
von Alena Weil
„Bevor wir über Freiheit sprechen, müssen wir uns klar machen, wie wir über Freiheit sprechen”, betont Joachim Gauck zu Beginn seiner Rede. „Das hängt auch damit zusammen, ob wir schon in Freiheit leben und wirken können. Ich persönlich habe 50 Jahre meines Lebens in Unfreiheit verbracht.”
Mehr als 150 Menschen, darunter vor allem Studierende, sitzen im Vortragssaal der Bibliotheca Albertina in Leipzig und hören dem Altpräsidenten gespannt zu. In seiner Rede erzählt er von seinen Erfahrungen in der DDR und vom Mut, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen.
Anlässlich des 35-jährigen Jubiläums des Mauerfalls und der Friedlichen Revolution haben das Bundesministerium für Bildung und Forschung, die Universität Leipzig und Wissenschaft im Dialog zur Diskussion eingeladen. Neben Joachim Gauck, Bundespräsident a.D., sprechen auf dem Podium: Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger, Prof. Dr. Gwendolyn Sasse, wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien Berlin, und Emilia Henkel, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neueste Geschichte/Zeitgeschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena. Die Moderation übernimmt die Journalistin Anja Heyde.
Die Veranstaltung ist Teil der Debattenreihe Freiheitsperspektiven im Wissenschaftsjahr 2024. In vier interaktiven Debatten haben über das Jahr hinweg Akteur*innen aus Forschung, Zivilgesellschaft und Politik über den Wert von Freiheit für Wissenschaft und Gesellschaft gesprochen. Das Event in Leipzig bildet zugleich Highlight und Abschluss der Veranstaltungsreihe.
„Um Freiheit zu gestalten, müssen wir uns von unseren Ängsten trennen”
„Was ist eigentlich mit dem Funken passiert, mit unserer Begeisterung für Freiheit und Demokratie”, fragt Moderatorin Anja Heyde zum Einstieg. Und wie viel muss Demokratie angesichts aktueller Krisen zulassen? Wann muss sie sich wehren? Darum geht es an diesem Abend im Vortragssaal der Universitätsbibliothek Leipzig.
Prof. Dr. Eva Inés Obergfell, Rektorin der Universität, begrüßt die Gäste und betont mit Blick auf den Veranstaltungsort: „Bibliotheken sind die Orte, die Demokratie schützen - durch freien, durch unbeschränkten Zugang zu Wissen, zu Ideen, zu Kulturen.” Was es bedeutet, wenn dieser freie Zugang nicht gegeben ist, das weiß Joachim Gauck der im Anschluss an die Begrüßung eine Rede hält. „Wenn Sie in einem Land aufwachsen, in dem Sie an den höchsten Schulen des Landes nicht unangeleitet Wahrheitssuche betreiben können, dann werden Sie automatisch konditioniert”, so Gauck. An die jüngeren Zuhörenden gewendet, sagt er: „Glauben Sie nie, dass Intellekt ausreicht, zu erkennen, was Sie erkennen müssen.
Eine gute Ausbildung, Intellekt, Wissen, das allein reicht nicht, um Veränderung zu schaffen. Das wird an diesem Abend deutlich. Es braucht vor allem auch den Mut und das Verantwortungsgefühl der Menschen. „Um Freiheit zu gestalten, müssen wir uns von unseren Ängsten, die uns Freiheit als eine Unmöglichkeit beschreiben, trennen”, sagt Gauck. Freiheit gelinge dann, wenn die Menschen Verantwortung übernehmen, so Gauck. „Wenn wir sagen: Ja, ich bin zuständig.”
Verantwortung übernehmen und für die Demokratie kämpfen, darum geht es auch in der anschließenden Podiumsdiskussion mit Gauck, Ministerin Bettina Stark-Watzinger und den Wissenschaftlerinnen Gwendolyn Sasse und Emilia Henkel. „Aus Berlin ist es immer leicht zu sagen, dass man die Demokratie jetzt verteidigen soll. Von Thüringen aus gesehen sind wir mitten in der demokratischen Krise”, gibt Emilia Henkel gleich zu Beginn der Debatte zu bedenken. Nicht immer liege es nur am fehlenden Mut, die Demokratie zu verteidigen, betont Henkel. Auch die strukturellen Faktoren, die „ermöglichenden Bedingungen drumherum” müssten stimmen. Mangelnde Anerkennung von Abschlüssen, fehlende Unterstützung für zivilgesellschaftliche Organisationen und viele weitere Faktoren hätten es den Menschen in Ostdeutschland nach 1989 schwer gemacht - und erschwerten es den Bürger*innen bis heute - für Freiheit zu streiten.
Die Runde diskutiert dabei auch das Nachwirken der DDR und die Rolle der politischen Sozialisation. Man müsse verstehen, dass es andere Lebenswege gibt, die nicht so günstig waren, sagt Gauck. „Die langen Schatten der Diktatur fallen auch auf diejenigen, die die Diktatur nicht erlebt haben.”
Es sei uns „nicht in die Wiege gelegt, Demokrat zu sein”, betont Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger. „Wir müssen lernen, Bürger in einer Demokratie zu sein.” Stark-Watzinger spricht von einem „Navigationssystem”, mit dem Menschen sich zurechtfinden in der Welt und lernen, Dinge kritisch zu hinterfragen.
In diesem Zusammenhang spielt auch die Wissenschaftskommunikation eine wichtige Rolle. Darauf verweist Gwendolyn Sasse: Gerade in Krisen sei es wichtig, dass es in der Gesellschaft ein Grundverständnis darüber gebe, woher wir unser Wissen bekommen und wie Politik mit wissenschaftlichen Erkenntnissen arbeitet. Dazu gehöre auch, zu kommunizieren: Wie funktioniert Wissenschaft? „Wissenschaft muss in diesen direkten Austausch gehen, sowohl politisch als auch gesellschaftlich.“, so Sasse.
Es wird viel über den Umgang mit Krisen, Konflikten und Problemen gesprochen an diesem Abend. Doch es gibt auch Dinge, die optimistisch stimmen können: Der Fortschritt in der Forschung etwa. Darauf verweist Bettina Stark-Watzinger in einem Plädoyer für die Wissenschaft und Wissenschaftsfreiheit. Sie erzählt von ihren Besuchen in wissenschaftlichen Einrichtungen in Deutschland, von dem Wissen und den Innovationen, die dort geschaffen werden. Daraus ergeben sich tolle Perspektiven, so Stark-Watzinger. Und das ermögliche einen Optimismus für die Zukunft, dem in Deutschland oft wenig Raum gegeben werde. „Zu wissen: Der Weg, der vor uns liegt, der kann besser sein.”
Echte Mitgestaltung ermöglichen
Doch wie schaffen wir es, alle mitzunehmen? Wie können wir als Gesellschaft enger zusammenrücken und an einer besseren Zukunft arbeiten? Emilia Henkel sagt: „Echte Mitgestaltung würde helfen.” Es reiche nicht, dass etwa in ostdeutschen Kommunen ab und zu mal eine Politikerin oder ein Forscher aus Berlin für einen Abend vorbeikomme. Sondern es brauche echte Mitsprache- und Mitgestaltungsmöglichkeiten für die Menschen. Und dafür brauche es zunächst mehr soziale Gerechtigkeit und Bildungsgerechtigkeit in Deutschland. Jede*r müsse die gleiche Chancen auf gute Bildung haben.
Joachim Gauck betont den Wert des Engagements: „Wenn wir uns wirklich hineintrauen in aktives Mitmachen, sei es etwa in studentischen Organisationen oder gewerkschaftlicher Arbeit, ist das immer mit Mühe verbunden.” Doch es sei gerade diese Mühe, Verantwortung zu akzeptieren, die uns nachhaltig glücklich mache.